Faktencheck Artenvielfalt zeigt: Lebensräume und Arten weiter bedroht

Der Faktencheck Artenvielfalt zeigt erstmals umfassend, wie es um die Biodiversität in Deutschland tatsächlich steht. Der mehr als 1.000-seitige Bericht identifiziert Trends und Treiber der Entwicklung der biologischen Vielfalt, gibt aber auch Empfehlungen, wie sich dem Verlust entgegenwirken ließe, und arbeitet Forschungsbedarfe heraus. Mehr als 150 Wissenschaftler*innen aus 75 Institutionen, darunter das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR), haben das Werk geschrieben. Anfang Oktober ist es erschienen.

Dieser Text basiert auf einer Pressemitteilung von Faktencheck Artenvielfalt.

Mehr als die Hälfte der natürlichen Lebensraumtypen in Deutschland weist einen ökologisch ungünstigen Zustand auf, täglich verschwinden weitere wertvolle Habitatflächen. Die Konsequenz: Populationen von Arten schrumpfen, verarmen genetisch oder sterben aus – mit direktem Einfluss auf die Leistungsfähigkeit und Funktionsweise von Ökosystemen. Ein Drittel der Arten ist gefährdet, etwa drei Prozent sind bereits ausgestorben.

In kaum einem Land wird so viel zur biologischen Vielfalt geforscht wie in Deutschland. Für den Faktencheck Artenvielfalt haben mehr als 150 Wissenschaftler*innen von 75 Institutionen und Verbänden nun die Erkenntnisse aus über 6.000 Publikationen ausgewertet, und in einer eigens dafür entwickelten Datenbank zusammengeführt. Um langfristige Entwicklungen zu erkennen, haben sie einen bisher noch nicht dagewesenen Datensatz von rund 15.000 Trends aus knapp 6.200 Zeitreihen erstellt und analysiert. Der Faktencheck Artenvielfalt ist damit weltweit eines der ersten Beispiele, wie große internationale Berichte – wie die globalen und regionalen Assessments des Weltbiodiversitätsrates IPBES – auf einen nationalen Kontext zugeschnitten aussehen können. Ziel des Faktencheck Artenvielfalt ist es, Handlungsoptionen für die konkrete nationale und subnationale Politik aufzuzeigen und zu entwickeln.

10.000 Arten in Deutschland sind bestandsgefährdet

Die Ergebnisse sind ernüchternd. Insgesamt sind 60 Prozent der 93 untersuchten Lebensraumtypen in einem unzureichenden oder schlechten Zustand. Am schlechtesten steht es um ehemals artenreiche Äcker und Grünland, Moore, Moorwälder, Sümpfe und Quellen. Der Faktencheck Artenvielfalt stellt nur wenige positive Entwicklungen fest, wie beispielsweise in Laubwäldern – doch diese werden akut vom Klimawandel bedroht.

Von den 72.000 bekannten in Deutschland heimischen Tier-, Pflanzen- und Pilzarten wurden bislang erst 40 Prozent auf die Gefährdung der Population hin untersucht. Von diesen Arten ist fast ein Drittel bestandsgefährdet. Die Gefährdung nimmt zu bei Arten des Agrar- und Offenlandes und in anderen, vor allem artenreichen Gruppen wie Insekten, Weichtiere oder Pflanzen.

Mit gezielten Maßnahmen den Biodiversitätsverlust stoppen

Klar belegbar ist, dass der Verlust von Lebensräumen und die intensivierte Nutzung von Kulturlandschaften den stärksten negativen Effekt auf die biologische Vielfalt haben, auch erste Auswirkungen des Klimawandels werden sichtbar. Die Intensivierung der Landwirtschaft hat negative Effekte in fast allen Lebensräumen, nicht nur im Agar- und Offenland, und bietet damit den größten Hebel für biodiversitätsschützende Ansätze. Der Faktencheck Artenvielfalt zeigt auch positive Entwicklungen, etwa die Verbesserung der Wasserqualität von Flüssen und die Förderung natürlicher Strukturelemente in Wäldern und in der Agrarlandschaft.

Allerdings macht der Bericht auch deutlich, dass rechtliche und förderpolitische Instrumente der Naturschutzpolitik unzureichend umgesetzt oder vollzogen werden, oft durch eine fehlende Abstimmung mit anderen Nutzungsinteressen. Eine größere Verbindlichkeit könnte der Biodiversitätsschutz erhalten, wenn er an höherrangige Rechte geknüpft würde, beispielsweise in Form eines Menschenrechts auf gesunde Umwelt oder eines grundgesetzlich gewährleisteten Eigenrechts der Natur.

Insgesamt macht der Bericht Hoffnung, dass sich der Verlust an biologischer Vielfalt mit gezielten Maßnahmen stoppen lässt. Ein ganzer Themenbereich widmet sich dem "Transformationspotenzial zum Erhalt der biologischen Vielfalt". An diesem Kapitel haben die IÖR-Wissenschaftler Karsten Grunewald als Leitautor und Markus Egermann mitgeschrieben. "Ein wichtiger Punkt wird es sein, biologische Vielfalt sowie Ökosysteme und ihre Leistungen als entscheidende Faktoren für unsere wirtschaftlichen Aktivitäten anzuerkennen. Aus diesem Zusammenspiel ergeben sich erhebliche Risiken, aber auch Chancen für Unternehmen und die Volkswirtschaft. Es muss uns gelingen, Biodiversität in die Bilanzberichterstattung von Unternehmen, aber auch auf staatlicher Ebene zu integrieren. So wäre sichergestellt, dass wir nicht mehr gegen die Natur wirtschaften", erklärt Karsten Grunewald vom IÖR.

Markus Egermann, Leiter des Forschungsbereichs "Transformative Kapazitäten" am IÖR, ergänzt: "Angesichts der vielen politischen Krisen auf dem Planeten, rücken ökologische Fragen derzeit in den Hintergrund. Andere Probleme werden als dringender wahrgenommen. Das ist verständlich, zeigt aber auch, dass die Krise, die hier auf uns zurollt, noch nicht vollständig verstanden wurde. Wie der Bericht zeigt, steigt das Risiko, dass aufgrund der massiven Reduktion der biologischen Vielfalt unsere Ökosysteme in ihrer Funktion gestört werden. Dies kann dramatische Folgen, etwa für unsere Ernährungssysteme haben, die ja selbst maßgeblich zum Verlust biologischer Vielfalt beitragen. Sollten diese Ökosysteme in ihrer bisherigen Funktion ausfallen, sind die Konsequenzen weitreichender als die Folgen aller derzeitigen Kriege zusammen. Es muss uns gelingen, die politischen Krisen zu bearbeiten und zu lösen und mit der gleichen Ernsthaftigkeit einen tiefgreifenden Wandel im Umgang mit den Ökosystemen auf unserem Planeten zu forcieren."

Für das notwendige weitreichende Umdenken liefert der Faktencheck Artenvielfalt Empfehlungen, denn die Wissenschaftler*innen haben erfolgreiche Projekte analysiert, um die Bedingungen für Transformation zu verstehen. Sie identifizieren eine Vielfalt von Motivationen und Akteur*innen, gelungene Partizipation und auch ökonomischen Nutzen als entscheidende Faktoren für erfolgreiche Ansätze.

Der wissenschaftliche Bericht "Faktencheck Artenvielfalt. Bestandsaufnahme und Perspektiven für den Erhalt der biologischen Vielfalt in Deutschland" ist am 1. Oktober 2024 im oekom-Verlag erschienen und steht online zum kostenlosen Download bereit. Er wird flankiert von einer Zusammenfassung für die gesellschaftliche Entscheidungsfindung.

Weitere Informationen zum Faktencheck

Wissenschaftlicher Kontakt im IÖR
Dr. Karsten Grunewald, E-Mail: k.grunewald@ioer.de


Hintergrund

Der Faktencheck Artenvielfalt ist im Rahmen der Forschungsinitiative zum Erhalt der Artenvielfalt (FEdA) entstanden. In dieser Forschungsinitiative fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) wissenschaftliche Projekte zur Analyse der Biodiversität in Deutschland sowie zur Entwicklung und Umsetzung innovativer, effektiver Maßnahmen zum Schutz und zur Verbesserung der biologischen Vielfalt. Derzeit gehören 39 Projekte zur FEdA. Die Initiative unterstützt dabei im Sinne einer „transformativen“ Wissenschaft den zielgerichteten Austausch zwischen Forschung, Politik, Wirtschaft, Land- und Forstwirtschaft, Naturschutz und Zivilgesellschaft.

 

 

Das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e. V. wird gemeinsam durch Bund und Länder gefördert.

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